Ansprache anlässlich der Vernissage der Ausstellung „Maxim Kantor: Gesichter – Visages – Faces“ am 12. Juni 2025 an der Luxembourg School of Religion & Society.
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Der Titel „Von Gnade, Gunst und Kunst“ kam mir beim Schreiben dieser Rede. Warum so viel Kantor an der LSRS? Wie kommt es, dass hier – mit der „Kapelle der Auferstehung“ und der großen Rickert-Sammlung – die größte Kantor-Sammlung entstanden ist? Beziehungen sind ein Teil der Antwort auf diese Fragen, wie auf so viele Dinge im Leben. Der andere Teil findet sich in der Aufgabe der LSRS. Ihr geht es darum, das gegenseitige, dynamische, oft ambivalente Verhältnis von Religion und Gesellschaft zu erfassen, zu verstehen und mitzugestalten. Vielleicht könnte ich das zusammenbringen, indem ich schreibe, es ginge um dialogisch-existenzielles Suchen nach Gott in Zeiten der verlorenen Evidenz? Das stimmt, doch suggestiver, kreativer als der professorale Sprachduktus laden die Alliteration und der Reim von Gnade, Gunst und Kunst dazu ein, sich auch spielerisch auf die Suche zu machen.
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Begegnungen, die zu Beziehungen führen, sind Geschenk. Am 7. September 2018 begann die Vernissage einer Kantor-Ausstellung in der Galerie Simoncini mit einer Viertelstunde Verspätung. Der Künstler unterhielt sich mit jemandem, der ihm eben erst von seinem lieben Freund Guy de Muyser vorgestellt worden war. „Ihr beide müsst Euch miteinander unterhalten!“ Was Maxim und ich dann auch getan haben, bis der Galerist uns unterbrach, da die Gäste ungeduldig wurden. Damit war eine Freundschaft geboren, die das, was hier an Bildern zu einem Ganzen zusammengewachsen ist, und darüber hinaus trägt.
Etwas aufgeregt war ich schon, als Frau Porsche mich in München zum ersten Mal mit ihrem Mann Dieter Rickert empfing. Wir kannten uns nicht; die beiden Sammler hatten die „Kapelle der Auferstehung“ hier im Haus besucht und unserer Generalsekretärin, Monique Kemp, eine Karte hinterlassen. Wer Dieter Rickert ist, konnte ich schnell über das Internet herausfinden. Ich wusste, dass er Kantors Bilder sammelt. Dass sich dann zwischen ihm, Frau Porsche und mir ein vertrauensvolles und freundschaftliches Verhältnis entwickelt hat und wir heute Abend die Rickert-Sammlung dem Publikum vorstellen, dass sie mir ihre Gunst zukommen lassen, kann man auch nicht erzwingen. Das, was ich als menschliche Bereicherung erlebe, hat als Geschenk immer auch etwas Gnadenhaftes an sich.
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Die „Kapelle der Auferstehung“ ist kein Auftragswerk; auch sie entstand durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren, die wir so nicht voraussehen konnten. Die Idee, Maxim Kantor als artist in residence an die LSRS zu holen, kam mir 2019 nach der internationalen Konferenz zu seinem großen Werk Das Jüngste Gericht. Das Nationalmusée um Fëschmaart hatte dieses Bild erstanden und wir hatten es in der Sankt Michaelskirche als Altarbild aufgehängt. Eine Tagung, ein Konzert und ein Gottesdienst ermöglichten Professoren, Freunden Maxims und vielen Interessierten, sich das Werk aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu erschließen.
Die Covid-Pandemie hatte niemand vorhergesehen. Doch ohne sie hätte Kantor die Bilder der Kapelle nie gemalt, zumindest nicht so. Die sieben großformatigen Altarbilder mit den entsprechenden Predellen sind zugleich Mittel und Ausdruck einer unnachgiebigen, manchmal verzweifelten, aber auch begnadeten Suche nach Gott in einer Zeit, wo der Virus ihn die Angst vor dem Tod hautnah erfahren ließ. Während Monaten verließ der Künstler sein Atelier auf der Île de Ré nicht. Mit Pinsel und Palette tauchte er in das biblische Erbe ein, ließ sich von den großen Figuren erfassen, die in ihrem Leben mit Gott um seine Gunst, um Gnade gerungen hatten. Täglich tauschten wir uns per E-Mail aus. Maxim sagt öfters, die Kapelle sei unser gemeinsames Werk. Er übertreibt. Aber es stimmt auch wieder. Nie zuvor hatte ich die Gelegenheit, am künstlerischen, existenziellen, geistigen und geistlichen Ringen um Einsicht, Verständnis, Form, Dichte und Ausdruck so direkt teilzunehmen.
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Dieter Rickert möchte in den Bildern, die er gekauft hat, keinen übergeordneten Zusammenhang sehen. Ja, Köpfe seien immer sein Geschäft gewesen, sagt er im Interview, das Sie im Ausstellungskatalog nachlesen können. Aber letztlich hat er die Bilder gekauft, bei denen es klickte. Dass es diese Bilder und nicht andere waren, hängt auch mit Personen zusammen, die ihm Bilder angeboten haben. Und mit seinem Geschmack. Und doch ergibt sich aus dieser Kontingenz ein Ganzes, das sowohl Kantors Werk beleuchtet als auch den Blick oder etwas von der Seele eines Menschen, der nicht nur Businessmensch und Kunstliebhaber ist, sondern auch für die gnadenhafte Gunst des Lebens dankbar bleibt.
Eine materielle Spende kann steuerliche Vorteile bringen. Doch ist das der Grund, warum Dieter Rickert die Bilder der LSRS überlässt? Sicher nicht! Die LSRS bietet sicher einen schönen Rahmen, damit die Bilder nicht mit dem Gesicht zur Wand verstauben; der Katalog erschließt die Werke und macht sie einem weiteren Publikum zugänglich. Doch es geht auch noch um etwas Anderes. Über die Kunst ist zwischen ihm, Frau Porsche und mir in den vergangenen Monaten und Jahren eine freundschaftliche Beziehung entstanden, die Gunst und Geschenk ist. Dafür bin ich, dafür sind wir an der LSRS sehr dankbar.
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Von den 22 Werken, die Dieter Rickert über die Jahre von Kantor erworben hat, sind 18 Porträts. Drei greifen zentrale Motive der Kantorschen Ikonographie auf: das rote Haus, der Turmbau zu Babel und die Ozeanlandschaft der Île de Ré. Wir haben es hier mit Seiten aus dem Kantor-Lexikon zu tun.
Nicht alle Bilder sind so, wie sie entstanden sind; elf wurden vom Künstler überarbeitet. Sie sind, wie er schreibt, Zeugen seiner Entwicklung. Sie führen uns vor Augen, wie sich sein Verhältnis zu seiner Welt, zu sich und auch zu Gott gewandelt hat. Sie ermöglichen es, Spiritualität in ihrer Dynamik am konkreten Objekt zu erfassen. „Erfassen“ hat mit Haptik zu tun. Und tatsächlich mag Maxim Kantor es, seine Bilder zu berühren, zu spüren, wie der Pinsel sie aufgebaut hat. Mit Studierenden habe ich das auch versucht, was in Museen natürlich strikt verboten ist und wovon ich Sie auch bitten möchte, abzusehen: sich ein Gemälde von Kantor zu ertasten. Spontan entstanden neue Assoziationen, tat sich ein anderes Verständnis auf, ergab sich ein Gesamteindruck.
In der Sammlung Rickert finden sich drei Bildskulpturen. Sie durchbrechen die Zweidimensionalität, die alles platt macht, nicht nur durch die Einführung der Perspektive. „Porträt [Gelbes Gesicht]“ verschärft auch die Konturen des „Porträts von Vater“, das ihm in unserer Installation gegenüberhängt, gibt ihm quasi räumliche Präsenz; „Gesicht und Hand“ konkretisiert materiell den Durchblick, auf das, was dahintersteckt und bietet eine grandiose Synthese einiger Aspekte von Kantors Ästhetik.
„Nach der Maskerade“ ist eine Bildskulptur, die der Maler als Pendant zum „Letzten Abendmahl“ der „Kapelle der Auferstehung“ überarbeitet hat. Die drei Masken sind an einem Tisch gefallen, auf dem unter anderem die Leidenswerkzeuge gemalt sind und ein Lammknochen eingearbeitet ist. Wo sind aber die Menschen, die ihre Masken fallen gelassen haben? Wie kam es dazu, dass dies möglich ist? Was muss ich gelesen haben, um vielleicht nicht sofort zu verstehen, aber in der richtigen Richtung weiter zu suchen?
So wenig wie die „Kapelle der Auferstehung“ den Auferstandenen zeigt, so wenig geben die Bilder Kantors auf die grundlegenden Fragen der Menschen eine Antwort, die die Frage zum Verstummen bringen würde. Wer Kantors Malerei begegnet, kann erfahren, dass sie zur Begleiterin wird, die die Beziehungen zu sich, Welt und Gott nicht nur spiegelt, sondern erkundet, ihnen Form gibt, ohne sie zum Erstarren zu bringen. Kantors Kunst anästhetisiert das Leben nicht; sie vermag es, in denen, die sich auch erschüttern lassen, Leben zu erwecken. Auch oder gerade angesichts des Leids ist sie, mit den Menschen, die sie verbindet, ein Geschenk, hat etwas von Gunst und strahlt auch von Gnade.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Zitieren als: Jean Ehret, „Von Gnade, Gunst und Kunst. Maxim Kantor und die LSRS. Ansprache anlässlich der Vernissage der Ausstellung „Maxim Kantor: Gesichter – Visages – Faces“ am 12. Juni 2025 an der Luxembourg School of Religion & Society“.